Kiki Smith
The Chapel of Mary’s Mantle

Eine Kapelle zu schaffen, das war ein lang gehegter Wunsch der amerikanischen Künstlerin Kiki Smith, der nun in Erfüllung gegangen ist. Das Kunstobjekt auf dem Domberg in Freising in direkter Nachbarschaft des Diözesanmuseums mit Blick über die Altstadt wurde am 7. Oktober 2023 eröffnet als dritte zeitgenössische Position im Kontext der Reihe Zeitgenössische Kunst für das Diözesanmuseum Freising  - nach dem Lichtraum von James Turrell A Chapel for Luke and his scribe Lucius the Cyrene (2022) und der Skulptur im Lichthof des Museums Arcangelo (Freising), (2021-2022) von Berlinde De Bruyckere.

Bei ihrem Besuch im Jahr 2019 hatte Kiki Smith den Platz neben dem Diözesanmuseum an der Kante des Domberges intuitiv erspürt. Hier sollte ihr „Sanktuarium“ stehen als eine begehbare Skulptur. Kernstück des kleinen Heiligtums sollte von Anfang an ein gemaltes Fenster aus Glas sein. „An der Westseite der Kapelle wird ein ovales Buntglasfenster das Abendlicht einfangen. Genau über der Mitte des Fensters wird sich ein gemalter blauer Mond befinden, der die Nacht widerspiegelt“, sagte sie damals voraus.

Im Laufe der folgenden vier Jahre hat Kiki Smith weitere Ideen entwickelt, und so ist in Zusammenarbeit mit den Architekten Brückner & Brückner ein einzigartiger Raum entstanden. Der Jungfrau Maria ist er gewidmet und trägt den Titel The Chapel of Mary‘s Mantle. Es ist ein wunderbarer Ort der Kontemplation geworden, ein Raum der Zuflucht und der Stille.

Die Architektur

Die Kapelle ist nach den Entwürfen der Architekten Brückner & Brückner entstanden, die auch das Diözesanmuseum umgebaut haben. Sie hat eine Grundfläche von vier mal vier Metern und ist in der Spitze sechs Meter hoch. Als „eine Art Schrein“ hatte sie Peter Brückner beschrieben. Sensationell ist das Material: abgedeckte alte Dachziegel. So ist ein komplett recyceltes Andachtshaus entstanden! Biberschwanzziegel rundum, den Boden eingeschlossen. Nach einem Aufruf des Museumsdirektors in der ganzen Erzdiözese hat man sie auf der alten Kirche in Ruhpolding gefunden, die neu gedeckt werden musste. In langwieriger Handarbeit sind sie kunstvoll geschichtet; in der Höhe formen sie sich zu einem Gewölbe. Die Linien der hellen Fugen bilden wunderbare geometrische Muster. Nischen laden ein zum Sitzen und Verweilen. Das Portal aus Eichenholz nimmt Farbe und Struktur der Ziegelsteine auf. Die Dachform erinnert an einen Bildstock, wie er als religiöses Denkmal gerade in Bayern oft am Wegesrand steht. 

Die Kunstwerke

Die Kunstwerke von Kiki Smith in diesem warmdunklen Raum leuchten und glänzen und reflektieren das Licht, das durch Fenster und Tür hineinfällt: der von der Decke schwebende Vogel aus Aluminium, vergoldet mit Weißgold und Gelbgold; das Geflecht von schimmernden Sternen in weißer Bronze; und die weithin sichtbare Taube auf dem Dach aus Bronze mit hochkarätigem Gold überzogen. Der blaue Mantel der Jungfrau Maria hängt schlicht an einem Haken an der Wand, ein in Jacquard-Technik gewebtes Tuch aus Wolle, Baumwolle und Leinen. Und auch der Mantel ist ein Bild des Lichts. Seine Motive beruhen auf der Serie The Light of the World (2017), Cyanotypien der Künstlerin, die das von der Wasseroberfläche eines Flusses spiegelnde Licht in dem alten photographischen Verfahren des „Eisenblaudrucks“ festhalten. Der Vollmond in sanftem Blau in der ovalen Öffnung gibt dem Raum eine mystische Aura. Kiki Smith hat ihn auf Glas gemalt. Das Fenster (210 x 130 cm) mit mundgeblasenen Echtantikgläsern ist in einem langdauernden und vielfältigen Prozess von Malen und Ätzen, Schleifen, Abwaschen und Brennen in Zusammenarbeit mit der Mayer’schen Hofkunstanstalt in München entstanden.

Jungfrau Maria: Mond und Mantel

Wie kaum eine andere zeitgenössische Künstlerin ist Kiki Smith ist mit den existentiellen Fragen des Menschsein befasst. Viele ihrer Werke sind inspiriert von christlicher Ikonographie und religiösen Erzählungen. So haben die historischen Sammlungen des Diözesanmuseums mit ihren Gemälden, Skulpturen und unzähligen Objekten der Volksfrömmigkeit für sie eine große Faszination. „Ich habe die Theorie, dass der Katholizismus und die Kunst gut zusammenpassen, weil beide an die körperliche Manifestation der geistigen Welt glauben – dass man durch die materielle Welt ein spirituelles Leben hat...“, sagt sie. Wenn sie selbst nun ein Bild des reflektierten Lichts in ein textiles Gewebe umwandelt, transformiert sie das Immaterielle ins Materielle. Damit bringt Kiki Smith ihren Marienmantel mit anderen katholischen Reliquien und wundertätigen Textilien in Verbindung wie dem Grabtuch von Turin, dem Schleier der Veronika und der Jungfrau von Guadalupe.

Das reflektierte Licht des Mondes brachte sie als Kind dazu, Gott als Sonne und die Menschen als deren Spiegelbild zu betrachten: „Ich dachte immer, oh, ich möchte wie der Mond sein. Ich möchte ... der Beweis („evidence“) auf Erden sein.“ Der Mond hat für sie eine enorme Anziehungskraft, „aber er ist auch einfach eines der schönsten Dinge, die man am Nachthimmel sehen kann", sagt Kiki Smith und vergleicht ihn mit der Jungfrau Maria: "Sie ist etwas, das man ansprechen kann. Die Sonne ist grausamer, man kann ihr nicht in die Augen sehen, während man dem Mond seine ganze Sehnsucht, seine Gebete, seine Traurigkeit und alles andere anvertrauen kann.“

„Maria breit den Mantel aus“ ist eines der bekanntesten Marienlieder (erste Druckfassung um 1640): „Maria breit den Mantel aus / Mach Schirm und Schild für uns daraus; / Laß uns darunter sicher stehn, / bis alle Stürm’ vorübergehn.“ (Textfassung von Joseph Hermann Mohr, 1891). Immer wieder hat sich Kiki Smith dieser Gestalt gewidmet: „Ich bin ein großer Fan der Jungfrau Maria. Ich bin als Katholikin aufgewachsen. Zahlreiche meiner Werke beziehen sich auf die Jungfrau Maria. Ich habe viele Versionen gemacht und sie in unterschiedlicher Art und Weise bearbeitet.“ Kiki Smiths berühmte Skulptur Virgin Mary aus dem Jahr 1992 breitet ihre Arme aus, weil sie bereit sei, alles zu umfassen. Sie stehe für dieses offene Mitgefühl, das uns umhüllt, das wir aber auch als Vorbild für unser Verhalten in der Welt betrachten können, sagt die Künstlerin. In ihrem Verständnis umfasst der Mantel Mariens den ganzen Himmel und alle Himmel und schließt alles ein, was uns gegeben ist. Maria bittet uns und fordert uns heraus, uns in ihren Mantel zu hüllen und uns durch Mitgefühl und Handlungen radikaler Empathie zu erweitern. Indem sie ihren Mantel anbietet, ermutigt Maria uns, uns ihr in ihrer bedingungslosen Liebe zu allen fühlenden Wesen anzuschließen. So wie sie durch ihr Leiden in eine Figur der Hoffnung verwandelt wird, bittet sie uns, ihren Mantel zu tragen und uns selbst zu verwandeln.

©Diözesanmuseum Freising, Photos: Thomas Dashuber